26.03.2019

"Ein denkendes Herz" - Zum Rhein-Meeting 2019

Die Reaktion der Kritiker auf ihr erstes Buch Geh wohin dein Herz dich trägt war für die italienischen Bestsellerautorin Susanna Tamaro offenbar mehr als ernüchternd. „Es wurde ins Lächerliche gezogen“, erinnerte sie sich beim Rhein-Meeting in Köln. Man habe ihr Gefühlsduselei vorgeworfen, das Werk als seichte Unterhaltungsliteratur geschmäht. „Ich habe damals verstanden, dass das Herz für die Gesellschaft ein großes Tabu ist“, so Tamaro gut 25 Jahre nach dem erschienen ihres Welterfolgs. Und daran habe sich bis heute nichts geändert. „Wir leben in einer Zeit, die den Sentimentalismus verherrlicht; das Gegenteil wirklicher Gefühle […] in einer Gesellschaft, die uns dazu zwingt, rein rationale Vernunft zu sein – oder Sexualobjekte“. Schlimmer noch: „Das Herz wird von der modernen Kultur nicht mehr beachtet“, und das,  obgleich es über Jahrtausende „im Mittelpunkt der großen Religionen und Kulturen gestanden hat“, so ihr Fazit.

Umso paradoxer musste der Titel des diesjährigen Meetings erscheinen, das vom 22. Bis 24. März in Köln stattfand: „Ein denkendes Herzen“. Es stammt aus den Tagebüchern von Etty Hillesum, einer jungen niederländisch-jüdischen Lehrerin, die am 3. November 1943 im Konzentrationslager Ausschwitz ermordet wurde. Ihre posthum veröffentlichten Tagebücher aus den Jahren 1941–1943 machten sie weltweit bekannt. Über 600 Besucher fanden sich während eines Wochenendes im Maternushaus unweit des Kölner Doms ein, um sich dem Thema zu widmen. Dies geschah vor allem im Dialog, der Gegenseitigen Mitteilung von Lebensfragen und Lebenserfahrungen.

Zum Auftakt traten drei Studenten mit dem ehemaligen Bundesminister und Vize-Kanzler Franz Müntefering ins Gespräch. Dem Sauerländer und gestandenen Sozialdemokraten erschien der Begriff „Denkendes Herz“ dabei offenbar zu gefühlig oder widersprüchlich. Er bevorzuge eher den „praktischen“ Ausdruck der Nächstenliebe – wie er sie bei seiner Mutter im katholischen Elternhaus erlebte und der ihn nach eigenem Bekunden bis heute prägt. Ein Schlüsselerlebnis: Die Mutter gab den bettelnden Kriegsversehrten, die in der Nachkriegszeit hungernd von Haustür zu Haustür zogen, kein Geld, sondern lud sie zu einer Suppe mit Brot ein. Zum Verdruss des jungen Franz bat sie die oft streng riechenden und verwahrlosten ins Esszimmer. Denn für die Mutter war eines selbstverständlich: „Man lässt niemanden im Stehen Essen“. Für den SPD-Spitzenpolitiker fasste sich darin das zusammen, was er später gesellschaftspolitisch als „Solidarität“ umzusetzen versuchte. Orientierung fand er dabei auch am Nestor der katholischen Soziallehre in der jungen Bundesrepublik den Jesuiten Oswald von Nell Breuning.
Und es ist kein Zufall, dass die Vertreter jenes sozial geprägten Christentums auf CDU-Seite, die sich ebenfalls auf Gemeinwohl, Gerechtigkeit und Solidarität beriefen, von ihren Gegnern als „Herz-Jesu-Marxisten“ verspottet wurden – womit der Begriff des Herzens auch in diesem Zusammenhang durchaus Verwendung fand. Dabei ging es vor allem um eines: Dass Wirtschaft und Politik dem Menschen zu dienen haben und nicht umgekehrt.

In diesem Sinne verstanden auch die IT-Expertin Yvonne Hostetter und der Mainzer Historiker Andreas Rödder das „Denkenden Herzen“ bei ihrem Podiumsgespräch als Synonym eines jüdisch-christlich geprägten Bildes vom Menschen.

Hofstetter, selbst erfolgreiche Software-Unternehmerin, sah dieses Verständnis des Menschen aber durch die Digitalisierung gefährdet und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Einmal in seiner äußeren Freiheit, durch die IT als umfassende Überwachungstechnik, die den Menschen in all seinen Lebensbereichen erfasst: von der Gesundheit über die Arbeit bis zur politischen Präferenz; nach chinesischem Modell zur totalitären Steuerung, die über ein Punktsystem die Wohlverhalten gegenüber der Staatsideologie prämiert oder bestraft; nach US-amerikanischem Modell des Wirtschaftsliberalismus zur totalen Unterwerfung aller Lebensbereiche unter das Diktat der Ökonomie – der Menschen als auszubeutendes Datenbündel. Demgegenüber konstatierte sie eine „überraschende Gleichgültigkeit“ „konsumorientierter Hedonisten, die ihr Leben für nichts mehr riskieren“.

Die Digitalisierung sei nicht neutral. Sie reduziere den Menschen auf ein quantifizierbares, durch Zahlen und Statistiken erfassbares Wesen: der Mensch als biologistischer Algorithmus, als Datenlieferant, als Objekt und Handelsware. Einen weiteren fatalen Zugriff sah sie in der Vermischung von Mensch und Maschine durch die Implantierung von Chips und durch die Entwicklung lernender Maschinen mittels der Künstlichen Intelligenz.

Rödder stimmte den Bedenken zu, wandte sich aber gegen eine fatalistische Weltsicht – für ihn eher die Kehrseite euphorischer Zukunftsverheißungen der Silikon Valley-Ideologie. Er plädierte für ein beherztes Handeln. Politik und Gesellschaft müssten endlich ihren Gestaltungsanspruch durchsetzen. Schließlich habe die Sozialpolitik im 20. Jahrhundert auch den zunächst als naturwüchsig empfundenen Manchester-Kapitalismus gebändigt und so für einen ungeheuren Massenwohlstand gesorgt. Die Auswüchse des IT-Kapitalismus müssten im Sinne eines „digitalen Humanismus“ rechtlich eingehegt werden, „damit auch in der Digitalisierung 0.5 oder 0.6 der Mensch 0.1 die Vorherrschaft habe“. Dringlich sei allerdings eine Stärkung der Urteilsfähigkeit gerade bei Jugendlichen durch eine humanistische Bildung im humboldtschen Sinne. Gemeint ist damit eine ganzheitliche Ausbildung, die auf eine Entfaltung des Menschen um seiner selbst Wille abzielt. „Eine guten Gedicht-Interpretation kann mehr bilden, als das Erlernen einer Computersprache“, brachte er es auf den Punkt.

Bedenklich fand er allerdings, dass das Internet „die ganze Art des Denkens“ beeinflusse. Statt des eines linearen Denkens, das von Gründen ausgeht und Ziele anstrebe, befördere es ein „flächiges“ Denken in Netzwerken ohne wirklich Bewertungen.

Ein Gedanke der in gewandelter Form auch im Hauptvortrag des Generalabtes der Zisterzienser Pater Mauro-Giuseppe Lepori auftauchte. Er berichte von einem Gespräch mit einem jungen Mädchen über den Einfluss der Digitalen Medien auf die Jugend. „Wir waren uns einig in einer Feststellung: Die Informatik bietet unzweifelhaft ungeahnte Möglichkeiten, das Wissen zu bereichern und zu Informationen zu kommen.“ Das eigentliche Problem liegt aber gerade in der Möglichkeit, „sofort auf die vielfältigsten Inhalte der Wissensvermittlung zuzugreifen.“ Die Folge: „Die Frage des Herzens hat gar keine Zeit aufzukommen; schon ist die Antwort da, schon sind tausende Antworten da, die sich aufdrängen und das Denken beschneiden und abtöten“. Anders gesagt: Eine persönliche Erfahrung, eine existenzielle Überprüfung wird unterminiert, alles bleibt abstrakt, fremd, beliebig.

Hofstetter bezeichnete das Internet als „Affektmaschinerie“, der es allein um das rasche Hervorufer starker Empfindungen gehe. Statt der „ Zeit des Wartens, die die Sehnsucht nach Sinn und Wahrheit schärft, die das Herz auf die Freude des Entdeckens, auf das Finden der Wahrheit wie auf die Begegnung mit einem Freund vorbereitet, wird die Zeit damit verschwendet, die unmittelbare Neugierde zu befriedigen, indem man zwischen tausend Angeboten scheinbarer und oberflächlicher Wahrheiten herumvagabundiert“, so Lepori. “Wir verlieren den Raum für das Denken des Herzens“.

Im Gegensatz zu Hofstetter führte er aber die Entfremdung des Herzens nicht auf die Kultur der Informatik zurück. „Das Problem liegt tiefer“: Es ist und bleibt die Freiheit des Menschen. „Mehrmals warnt uns Jesus: „Aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsches Zeugnis und Lästerung. Das ist es, was den Menschen unrein macht“ (Mt 15,19-20a), zitierte Lepori das Evangelium. „Aber Jesus weiss, dass es nicht genügt, „Genug!“ zu sagen zu den Gedanken, damit sie verschwinden. Vielmehr muss man die falschen Gedanken mit einem Gegenmittel, mit einer Realität konfrontieren, die ihnen widerspricht und sie entwaffnet.“ Es ist „die Realität des Ereignisses Christi, welche die im Herzen der Jünger verborgenen Gedanken erschüttert“. Das heißt: „an Christus denken und wie Christus denken.“

Wie aber entwickelt sich ein solches Denken, bei dem es nicht um eine Sache des Verstandes, eine Wissenschaft, Philosophie oder Theologie geht?

Hier griff Lepori auf die Tagebucheinträge von Etty Hillesum auf dem Jahr 1942 zurück: Etty ist krank und befindet sich in einem separaten Raum, getrennt von den Frauen, die in einer anderen Baracke des Sammellagers von Westerbork gefangen gehalten sind. Etty leidet unter Schlaflosigkeit und erträgt nur mit Mühe ihre Schwäche. Sei bedrücken die täglichen Sorgen, die sie daran hindern, sich Gott zu überlassen und sich der Menschen im Lager anzunehmen. Da kommt ihr in den Sinn, wie sie sich einmal bei den andern in der Baracke einer wichtigen Sache bewusst geworden war: „Wenn ich nachts auf meiner Pritsche lag, mitten zwischen leise schnarchenden, laut träumenden, still vor sich hin weinenden und sich wälzenden Frauen und Mädchen, die tagsüber oft sagten: ‘Wir wollen nicht denken’, ‘wir wollen nichts fühlen, sonst werden wir verrückt’, dann war ich oft unendlich bewegt, ich lag wach und ließ die Ereignisse, die viel zu vielen Eindrücke eines viel zu langen Tages im Geist an mir vorbeiziehen und dachte: ‘Lass mich dann das denkende Herz dieser Baracke sein.’ Ich will es wieder sein. Ich möchte das denkende Herz eines ganzen Konzentrationslagers sein.” (Tagebuch, 3. Oktober 1942). Etty Hillsum will nicht ins Vergessen, sie will nicht in die Gefühllosigkeit gegenüber der Realität schlittern, mag diese Realität noch so tragisch und absurd sein, betont Lepori. „Sie stellt sich stattdessen ganz bewusst der Konfrontation mit dieser Realität. Sie erkennt intuitiv, dass das Daran-denken Ausdruck der Liebe, ein Denken mit dem Herzen ist. Sie ist „unendlich bewegt“, sie empfindet eine zärtliche Zuneigung zur leidenden Menschheit, die sie umgibt.“

  Nach den Worten Leporis ahnt Etty, „dass ein denkendes Herz inmitten einer entmenschlichten und entmenschlichenden Wirklichkeit die geheimnisvolle, aber reelle Macht hat, das Menschliche zu retten, zu retten, was göttlich ist im Menschlichen, zu retten, was alles verwandeln kann: die bewusste und somit innerlich freie Liebe.“ So entspreche das „denkende Herz“ von Etty Hillseum dem unsichtbaren „Strom des mystischen Lebens“, das die Flamme der Nächstenliebe und der Wahrheit, die Gott der Menschheit schenkt, jede „dunkle Nacht“ der Geschichte durchdringen lässt.

Eine solche Ahnung vermittelt auch die Lesung aus den Tagebüchern Etty Hillsums durch die Regisseurin und Schauspielerin Ingeborg Waldherr,  begleitet vom eindringlichen Cello-Spiel Dimitris Pekas.

Die Beiträge von Andreas Knapp und Susanna Tamaro verdeutlichten je auf ihren Weise, was ein „denkendes Herz“ in actu, im Handeln bedeutet. Wie Lepori anhand von Etty Hillesum verdeutlichten sie wiederum im Dialog, dass es gerade nicht um eine Introspektion einen Rückzug auf das eigene Ich geht, sondern im Gegenteil eine Wachheit, eine Hören auf die Wirklichkeit oder ein Bitten geht. Gianluca Carlin der Vorsitzender Rhein-Meeting zitierte dafür paradigmatisch für den Menschen schlechthin die Bitte des König Salomons im Alten Testament: Als Gott ihm im Traum eine Bitte gewährt wünscht er sich eine „hörendes Herz“ und Gott gewährt ihm ein „weises und verständiges Herz“.

Von einem solchen Geschenk durch die Begegnung mit Flüchtlingen berichtete Knapp, von den Kleine Brüder vom Evangelium des Charles de Foulcauld, der seit 2005 in einer Leipziger Plattenbausiedlung wohnt um als Gefängnis und Flüchtlingsseelsorger das Leben der Armen zu teilen. Ein völlig unvorhergesehener Wendpunkt kam für ihn als 2015 als eine christliche Flüchtlingsfamilie aus Mossul in die leerstehende Nachbarwohnung einzog. Aus einer einfachen Begegnung entwickelte sich eine weitreichende Freundschaft. „Ich hörte meinen neunen Nachbarn einfach zu“ – und so ließ er sich vom Schicksal der Flüchtlinge „anstecken“. Er reiste nicht nur in den Irak, sondern schrieb die Lebensberichte dieser Menschen auf, um sie für die Geschichte „zu retten“. So war auch sein Vortrag geprägt von einer leidenschaftlichen Anteilnahme am Schicksal der Verfolgten, ja der großartigen Kultur der Orientalischen Christen, deren Präsenz seit dem Frühchristentum in diesen Jahren vor der völligen Auslöschung steht. Ein Vorgang von weltgeschichtlicher Tragweite, von der selbst europäische Christen kaum Notiz nehmen, wie er beklagte.

Susanna Tamaro berichtete mit geradezu schonungsloser Offenheit von ihrem „Verletzt-Sein“ durch die Krankheit des Asperger Syndroms, einer Variante des Autismus; vom Unverständnis einer Mutter gegenüber einem hypersensiblen Kind, das Stunden über ein herabgefallenes Vogelnest weinen konnte – das sich aber „gefangen in den Neuronen“ wie in einem „Taucheranzug“ nicht mitteilten konnte.
Auch für sie ist das Denkende Herz ein Geschenk, von Anfang an: „Eine Vase“, deren „geheimnisvoller Inhalt nicht von uns abhängt“. Gerade dieser Aspekt des Herzens sei es, der „die Postmoderne so irritiert“: „In der Tiefe unseres Herzens erklingt eine leise Stimme, die Stimme des Gewissens. Sie lässt uns zwischen Gutem und Bösem unterscheiden – nicht wir entscheiden darüber!“
Von diesem Hören hängt nach Tamaro das Geling des Lebens ab. „Die erste Tugend auf dem Weg zur Heiligkeit ist deshalb das Zuhören“. Der Mensch sei mit einer „Antenne“ geboren „um die Botschaft des Universums zu empfangen“ – ganz Erwartung auf eine Resonanz, eine Erfüllung.

Deshalb konnte für Tamaro auch ein „Leben voller Schmerz ein Geschenk“ sein, weil es die Sinne schärft, zum Hören sensibilisiert: „Ich war häufig wütend auf Gott. Aber von der Auflehnung muss man zum Erkennen kommen“. Und so kann „das Geschenk des Leidens“ schließlich „ganz besonders glänzen“.

Auf die vielen Fragen, die ihr Mitglieder aus der Vorbereitungsgruppe des Meetings stellten, – zu Schmerz, Vergebung, Freundschaft…- antwortete sie mit beeindruckendem Freimut. Freundschaft – ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch ihr Werk zieht – sei das lebenswichtige Geschenk einer „Seelenverwandtschaft“. Diese empfindet sie ganz besonders für Etty Hillesum. So verstehe sie ihr Schriftstellerdasein gewissermaßen als Erfüllung des Wunsches, der Hillesum durch den frühen gewaltsamenTod verwehrt blieb: zu dichten.
„Die Kunst der Begegnung verlangt eine große Demut“, meinte Tamaro zusammenfassen. Und dieser wesentliche Aspekt des „Denkenden Herzens“ schien wie die Überleitung zum Thema des nächsten Meetings: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“ nach einem Zitat von Martin Buber.

Christoph Scholz