Der Titel des diesjährigen Rhein-Meetings mag auf den ersten Blick irritieren, wird doch gemeinhin der Begriff des Herzens als Sitz des Gefühls und in Opposition zum Verstand aufgefasst. Im biblischen Sinne aber bezeichnet das Herz den Kern der Person und zwar insofern sie dazu in der Lage ist, sich selbst, die Welt und die Mitmenschen bewusst wahrzunehmen und zu ihnen in Beziehung zu treten.
In diesem Sinne verwies Benedikt XVI. bei seiner Rede im deutschen Bundestag auf das „hörende Herz“, um das König Salomon bei seiner Thronbesteigung als einzige Gabe bat. Er meinte damit die „Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden und so wahres Recht zu setzen, der Gerechtigkeit zu dienen und dem Frieden“. Auch Hannah Arendt griff die Bitte des König Salomons auf: Dieser „wusste, dass nur ein ‚verstehendes Herz‘ (und nicht bloßes Nachdenken oder Fühlen) es für uns erträglich macht, mit anderen, immer fremden Menschen in derselben Welt zu leben, und es ihnen ermöglicht, uns zu ertragen“.
Im vergangenen Jahr hatten wir mit George Orwell die Frage nach der Gewissheit über die Welt, das Leben und die Beziehungen, die es ausmachen, ins Zentrum gestellt. Diese Frage wollen wir in diesem Jahr vertiefen: Wo finden wir die Kriterien zur Beurteilung all dessen, was uns begegnet? Ist es überhaupt und wie ist es möglich, in einer immer komplexer werdenden Welt selbstständig zu urteilen?
Es geht demnach weiterhin darum, gemeinsam darüber nachzudenken, was Orientierung ermöglicht und hilft, den Umständen des Lebens neugierig und erwartungsvoll zu begegnen. So haben wir Ausschau gehalten nach Personen, die uns helfen können, die Zeit, in der wir leben, besser zu verstehen, und die bereit sind, ihre eigenen Urteilsmaßstäbe offen zu legen und zu teilen.
In Etty Hillesum haben wir eine solche Gesprächspartnerin gefunden. In ihren Tagebuchaufzeichnungen beschreibt die junge Frau, die 1943 in Auschwitz-Birkenau umgebracht wurde, einen Weg, der in der intensiven Auseinandersetzung mit sich selbst und den Umständen zu einer immer größeren Gewissheit über Gott und das Leben gelangt, so dass sie sich im Konzentrationslager wünscht, für ihre Mitmenschen „das denkende Herz der Baracke“ zu werden. Diesem Wunsch verdankt sich der Titel des Rhein-Meetings.